Dr. M. Komma Isolde-Kurz-Gymnasium Reutlingen
Von den Physikern des CERN wurden zwei Entwicklungen angestoßen, die die wissenschaftlich-technische Evolution entscheidend beeinflussen sollten. Eine davon kennt inzwischen jeder: das WWW (seine Erfinder hatten sich allerdings nicht das Surfen zum Ziel gesetzt, sondern ein problemloses Webpublishing). Die zweite und ältere Erfindung ist - auch unter Mathematikern - weniger bekannt: Computer Algebra Systeme (CAS). Formeln der theoretischen Physik können oft einen Umfang annehmen, der von Hand nicht mehr zu bewältigen ist. Also begann man Programme zu schreiben, mit denen nicht nur numerische Ergebnisse berechnet werden konnten, sondern z.B. auch Termumformungen möglich waren. Das symbolische Rechnen wurde auf das Lösen von Gleichungen, Differentialgleichungen und Systeme ausgedehnt und ein modernes CAS enthält heute fast alle Optionen, um zumindest angewandte Mathematik betreiben zu können. Dazu kommen die reichhaltigen Möglichkeiten der statischen und bewegten Visualisierung sowie in jüngster Zeit auch die Einbettung von Objekten und Hypertext innerhalb eines CAS. Was ursprünglich für Spezialisten gedacht war und nur auf Großrechnern eingesetzt werden konnte, kann heute von Elftklässlern bedient werden und läuft auf einem Laptop. Daher ist es klar, daß CASe im Unterricht ebenso eingesetzt werden wie das WWW. Mehr noch: Dem Mathematik-Unterricht kommt eine Vorreiterrolle beim Anschluß der Schulen an die neuen Technologien zu.
Seit es vernünftige Computer gibt, mit denen computerunterstütztes Lernen möglich ist, wurde die Fülle der didaktischen Theorien um weitere Studien bereichert, die in die Tausende gehen. So z.B. Instruktionsdesign für Multimedia oder Interface-Design für computerunterstütztes kooperatives Lernen. In den Diagrammen der Designer findet man dann, welche Arten von Lernsoftware es gibt: Sokratisches Lernen (intelligenter Dialog), learning by doing (Problemlösen), unterhaltendes Lernen (Spiel) ... selbstgesteuertes Lernen (passiver Tutor)". Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ein CAS ist keine von Instruktionsdesignern entwickelte Lernsoftware, sondern ein Werkzeug, ein Werkzeugkasten, eine Werkzeugmaschine, mit der man experimentelle Mathematik betreiben kann. Das kommt dem learning by doing ziemlich nahe, ist aber doch entscheidend mehr: Der Lernende wird zum Forscher, und das ist gerade in den Naturwissenschaften die wichtigste Triebfeder und das eigentliche Ziel der Praxis, das man allerdings kaum in einer didaktischen Theorie findet.
Freilich stehen auch hinter einem CAS Designer, die ein benutzerfreundliches Werkzeug programmiert haben, mit dem inzwischen alle konventionellen Lernziele erreicht werden können und vor allem viele neue. Eine Kategorisierung der Einsatzmöglichkeiten eines CAS im MU läßt sich etwa so vornehmen:
Somit kann ein modernes CAS in allen Situationen des herkömmlichen Unterrichts eingesetzt werden. Die revolutionierende Kraft steckt jedoch in folgenden CAS-typischen Merkmalen:
Damit wird der Schüler vom Konsumenten zum Produzenten, und zwar nicht nur von Formeln und Zahlen, sondern von lesbaren mathematischen Texten, über die er mit anderen diskutieren kann.
Die fachspezifischen Aspekte (CAS im MU) können nicht isoliert von der zur Zeit wichtigsten technischen Entwicklung gesehen werden: der globalen Vernetzung. Alle elektronischen (Mathematik-) Bücher der Welt bilden eine riesige Wissensbasis, die durch ihre Autoren und Benutzer ständig erneuert wird und weiter wächst. Natürlich trifft dies für alle Fächer zu - ist fächerverbindend. Je umfassender der Computer im Unterricht und zu Hause (!) eingesetzt wird, um so dringender ist eine Auseinandersetzung mit den dadurch entstehenden organisatorischen und logistischen Problemen notwendig:
Die Bewältigung der Datenflut ist nur möglich, wenn man das Dokumentenmanagement weitgehend automatisiert, z.B. mit Datenbanken und Robots. Aus diesem Grund wurde am Isolde-Kurz-Gymnasium die Vernetzung Laptops - Schul-LAN - Lehrer-PC - Schüler-PC vorangetrieben. Als Materialsammlung und Kommunikationsplattform dient ein Domino-Server, also eine Lotus Notes Datenbank, die über Web-Browser zugänglich ist, und somit im Prinzip von jedem Internet-Benutzer verwendet werden kann: Teleworking, Telelearning - virtuelles Klassenzimmer. Die Aufbauphase läuft mit der Unterstützung der Initiative S.a.N als Infrastrukturprojekt und mit der folgenden (hier nur skizzierten) Konzeption: Die schon in Klasse 11 mit CAS (auf Laptops) unterrichteten Schüler werden im Grund- und Leistungskurs die Ergebnisse ihrer experimentellen Mathematik auf dem Domino-Server zur Diskussion stellen (schulintern). Parallel dazu werden die etwa vierzig CA-Schulen des Landes Materialien und Erfahrungen austauschen, damit die Übertragbarkeit auf den MU von morgen gewährleistet bleibt.
Wie schon der Unterricht in den CAS-Kursen - und vor allem an unserer Schule der Einsatz von Maple im laufenden Mathematik- und Physikunterricht (jew. Klasse 11 bis 13) - gezeigt hat, muß in zweierlei Hinsicht genügend investiert werden, wenn man erfolgreich mit einem CAS arbeiten will:
Wenn diese Voraussetzungen aber erfüllt sind, steigt mit dem neuen Werkzeug und den neuen Unterrichtsformen (selbständiges Arbeiten, Projekte) die Motivation der Schüler sprunghaft an, und der Unterricht bekommt eine nie geahnte Eigendynamik. Dies bestätigt nicht nur eine Befragung der Schüler (Fragebögen), sondern vor allem ihre Produkte. Es ist längst keine Vision mehr, daß der Mathematik-Lehrplan von morgen (und die Prüfungsaufgaben) auch Differentialgleichungen oder Themen aus der Variationsrechnung enthalten wird: Die für die Klassen 12/13 im Projekt geplante Stoffverteilung und alle zugehörigen Materialien, sowie öffentliche Diskussionen werden im Schuljahr 97/98 im Internet (http://www.ikg.rt.bw.schule.de) verfügbar sein.
Wenn oben nur von logistischen Problemen, Computern und Programmen die Rede war, könnte das den Eindruck erwecken, daß pädagogische Probleme ignoriert werden. Das Gegenteil ist der Fall: Wir haben im letzten Jahr durchweg positive Erfahrungen gesammelt, was den Einsatz der Neuen Technologien angeht. Insbesondere hat sich die so oft geäußerte Befürchtung der sozialen Vereinsamung durch den Computer nicht bewahrheitet. Vielmehr steht für alle Beteiligten fest, daß das Medium Computer - richtig eingesetzt - nicht nur virtuelle Kontakte fördert.
Es bleibt aber das Problem der Finanzierbarkeit des MU von morgen und die Umstellung der Lehrpläne und vor allem der Prüfungen auf das Medium Computer.