Laptop zum Spicken

Erstmals durften Schüler beim Abitur Computer benutzen  Von Monika Ermert (1999)

Papier, Bleistift und ein bißchen was zum Essen hatte sich Fabian Hust für seine Abiturprüfung eingepackt. Der sperrigste Gegenstand in seinem Ranzen aber war ein kleiner, schwarzer Laptop. Mit den tragbaren Computern haben der 19jährige Reutlinger Gymnasiast und 59 weitere Schüler in Baden-Württemberg vor kurzem ihr Mathematik-Abitur bestritten.

Mit einem Computer-Algebra-System (CAS) hatten sie Kurvenscharen und Systeme mit sieben Gleichungen darzustellen. Die Festplatten ihrer Rechner wurden vor der Prüfung nicht kontrolliert. Grundsätzlich, so einer der betreuenden Lehrer, hätten diese Abiturienten damit über den "größten Spickzettel" der Welt verfügt.

Das "Pilotprojekt Mobiles Klassenzimmer" ist wohl die konsequenteste Erprobung des Einsatzes neuer Techniken im deutschen Schulunterricht. "Selbst europaweit einzigartig", urteilt der Leiter der Geschäftsstelle "Schulen ans Netz", Michael Drabe. Dabei hat sich der Quantensprung fast unbemerkt vollzogen, so als hätten die Beteiligten noch Angst vor der eigenen Courage. Bilanz ziehen wollen die beteiligten Projektschulen in Karlsruhe, Lörrach, Backnang und Reutlingen, die zuständigen Oberschulämter und das betreuende Staatliche Seminar für Schulpädagogik in Karlsruhe erst nach dem Abitur.

Drei Jahre lang haben die Grund- und Leistungskursschüler der vier Klassen viele Stunden ihres Mathematikunterrichts am Computer absolviert. Neidisch beäugt von ihren Mitschülern, haben sie ihre schicken Laptops mit sich herumgetragen und teilweise auch in anderen Fächern eingesetzt, zum Beispiel für das Verfassen von Deutschaufsätzen oder beim Erstellen eigener Homepages fürs Internet. Immerhin 1,2 Millionen Mark ließ sich das baden-württembergische Kultusministerium die teuren Geräte kosten und beschaffte mit dem Computerprogramm Maple eine Software, die auch in Forschung und Wissenschaft Verwendung findet.

Maple ermöglicht die Bearbeitung schwierigster mathematischer Operationen, übernimmt lästige Rechenarbeit und liefert auf Knopfdruck die Ergebnisse von gewaltigen Gleichungssystemen, Darstellungen von Funktionen und Lösungen für Differentialgleichungen, die bislang Stoff für das vierte Hochschulsemester waren. Aber darf die Arbeit mit dem Computer ein so starkes Gewicht im Mathematikunterricht gewinnen? Darüber diskutieren nun die Beteiligten. "Eine ähnliche Diskussion hatten wir schon bei Einführung des Taschenrechners", sagt Ulrich Rauscher vom Gymnasium in der Taus in Backnang. "Können Sie heute noch eine Wurzel ziehen ohne Taschenrechner?" fragt Ernestina Dittrich vom Karlsruher Helmholtz-Gymnasium, und Michael Komma, der Lehrer von Fabian und einer der Vorreiter des CAS-Einsatzes in der Schule, signiert jede seiner E-Mails mit dem Leibnizschen Satz: "Denn es ist eines ausgezeichneten Mannes nicht würdig, wertvolle Stunden wie ein Sklave im Keller der einfachen Berechnungen zu verbringen."

Während ihres Spezial-Abiturs durften die Laptop-Schüler alle Rechenschritte anwenden, die sie im Unterricht auf so genannten Worksheets erarbeitet haben. "Das nützt aber nur dann etwas, wenn man weiß, welchen Lösungsweg man gehen muß", sagt Fabian Hust. Zur Vorbereitung auf die Prüfung hatte er seine gut sortierte Worksheet-Sammlung noch einmal durchgearbeitet. Unruhig machte ihn vor allem, daß er und seine Mitschüler als Vorboten das Neuland der elektronischen Reifeprüfung betreten. "Ein Abi mit dem Computer hat es schließlich noch nie gegeben, wer weiß, was für Aufgaben wir da kriegen", sorgte sich der Abiturient. In seinem zweiten Hauptprüfungsfach Chemie gebe es wenigstens Aufgabensammlungen, da wisse man ziemlich genau, was einen erwartet.

Für die Freigabe aller erarbeiteten Operationen spricht, daß die Schüler dann kreativ mit dem Rechner umgehen können. "Vier oder fünf verschiedene Lösungswege für eine Aufgabe habe ich bei meinen Schülern im Abitur gesehen", sagt Rauscher voller Begeisterung. Genau darin sehen alle Beteiligten den Hauptvorzug des Softwarepakets. Statt Gleichungen nach Schema F zu lösen, sollen die Schüler einen realen Sachverhalt mathematisch erfassen und in eine Gleichung umsetzen können. "Mehr mathematisches Verständnis, weniger Drill", sagt Hans Selinka vom Oberschulamt Tübingen. Im herkömmlichen Mathematikunterricht fehlt dazu häufig die Rechenmacht, mit einem CAS kann die inhaltliche Arbeit in den Vordergrund rücken.

Wie müssen Milchtüten geschnitten werden, damit das Verpackungsmaterial optimal genutzt ist? Wie verändern sich Populationen über mehrere Generationen in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren? Welche Phänomene ergeben sich beim Billardspiel mit gekrümmten Banden? "Die Schüler haben in Seminararbeiten Phantastisches abgeliefert", räumt Dieter Koller vom Seminar für Schulpädagogik ein, obwohl der zweite Bericht der Karlsruher Pädagogen kritisch mit dem Computereinsatz ins Gericht ging. "Es besteht schon die Gefahr, daß die Schüler das Wissen, das sie auf dem Laptop mit sich herumtragen, mit dem Wissen im Kopf verwechseln", sagt Koller. Vor allem die Abhängigkeit vom elektronischen Gehirn müsse aber vermieden werden.

Und die Abhängigkeit fängt schon bei lapidaren Dingen an: ohne Strom im Klassenraum kein digitales Abitur. Sicherungsdisketten und Ersatzgeräte für die nicht immer zuverlässigen Laptops sollten technische Probleme vermeiden helfen. Seine Arbeitspapiere hatte Fabian vorher noch auf eine CD gebrannt, für alle Fälle. Die Fehleranfälligkeit der Laptops, die dem Streß täglicher Fahrradfahrten in Rucksäcken und Ranzen kaum gewachsen waren, stellte dann auch tatsächlich eines der größten Probleme für Lehrer und Schüler dar. Am Ende des Abiturexperiments atmeten alle Beteiligten noch ein bißchen mehr auf als nach der normalen Abiturklausur.

Für die nächste Runde will die Mehrzahl der Schulen auf weniger empfindliche Tischgeräte setzen. Voraussetzung sind dann eine ausreichende Ausstattung der Schulen - im nächsten Schuljahr werden es mindestens doppelt so viele sein - und der Zugang zum Computer daheim. Die Ausbreitung in die Fläche dürfte noch ein Weilchen dauern. Geld vom Land aber gibt es für die zweite Runde nicht mehr. Walter Kinkelin, im baden-württembergischen Kultusministerium für das Projekt verantwortlich, kann sich da auch eine kleine Lösung mit billigeren programmierbaren Taschenrechnern vorstellen. Weniger Computereinsatz als im ersten Durchgang wünscht sich auch Dieter Koller. An den vier Projektschulen aber will man sich von PC und Maple nicht mehr trennen. Auch die "Abfallprodukte" Erfahrung mit Textverarbeitung, Umgang mit dem Internet bis hin zur Netzwerkbetreuung werden allseits als Schlüsselqualifikationen gelobt.

Mehr Mut fordert vor allem Michael Komma, der in seinen eigenen Zwischenbericht schrieb: "Wir müssen Chancen der Technologie voll ausloten." Dabei will er gar nicht auf Tafel und Kreide verzichten, die Lehrer keineswegs durch Computer und Internet ersetzen. Das virtuelle Klassenzimmer ist für ihn aber schon lange keine Vision mehr. Fast rund um die Uhr kann er Fragen seiner Schüler beantworten, als Fortschreibung der gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse entsteht ein elektronisches Lehrbuch. Umsonst wird das bei allem Engagement der Lehrer nicht zu haben sein, denn selbständig lernende Schüler wollen individuell betreut werden.

Trotz aller positiven Erfahrungen des Modellversuchs: Der richtige Weg ist noch umstritten, die Fragen: "Wieviel Arbeit darf der Computer dem Schüler abnehmen?" und: "Wieviel Computer schadet dem Schüler?" sind noch nicht beantwortet. Doch Michael Komma ist überzeugt: "In der vernetzten Welt von morgen werden unsere Schüler genauso geprüft werden, es wäre falsch, sie nicht schon heute darauf einzustimmen."

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin:
© beim Autor/ DIE ZEIT 1999 Nr. 19
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