Der atomare Dipol

Dixitque Deus fiat lux et facta est lux.
  • Und Gott sprach: es werde Licht. Und es ward Licht.

  • Und Feynman sprach: Wir haben so manches Problem elegant unter den Teppich gekehrt.

  • Und Zeilinger sprach: Die wesentlichste Eigenschaft eines Wissenschaftlers ist es, neugierig zu sein und sich über Dinge zu wundern, über die sich keiner wundert, weil er vermeintlich glaubt, sie zu verstehen.

Wenn man nach dem "atomaren Dipol" im Internet sucht, findet man z.B. bei Wikipedia folgende Bilder und Bildunterschriften:

1. Lorentz Oszillator

 
2. Thomsonsches Atommodell

3. Dielektrikum

Elektronen sind analog zu verschieden starken Federn (Anisotropie) an den Atomkern gebunden. Das Thomsonsche Atommodell. Elektronen: blau. Positiver Hintergrund: rot. Der Atomkern (positiver Ladungsschwerpunkt) wird durch ein externes Feld links neben den negativen Ladungsschwerpunkt (Elektronenhülle) gezogen.

1. Lorentz Oszillator: Das Bild suggeriert, dass eine positive Ladung wie eine Masse in Federn eingehängt ist, die irgendwo auf den x-, y-, z-Achsen befestigt sind. Aber es handelt sich nur um eine "Analogie", mit der gemeint ist, dass (punktförmige?) Elektronen irgendwo auf den Achsen mit Federn an den Atomkern (+) gebunden sind. Dabei steht "Feder" für "lineare Rückstellkraft", bzw. für "quadratisches Potential", also eine harmonische Schwingung.

2. Thomsonsches Atommodell: Nun befinden sich die Elektronen vor einem "positiven Hintergrund" (rot). Der Atom"kern" ist in diesem Modell eine positiv geladene Kugel mit konstanter Ladungsdichte, was tatsächlich zu eine lineare Rückstellkraft zur Folge hat.
Es ist wirklich interessant, das Original zu lesen: Thomson, J. J.(1904) 'XXIV. On the structure of the atom: an investigation of the stability and periods of oscillation of a number of corpuscles arranged at equal intervals around the circumference of a circle; with application of the results to the theory of atomic structure', Philosophical Magazine Series 6, 7: 39, 237 — 265
DOI:
10.1080/14786440409463107. Newton hätte dazu gesagt: "hypotheses non fingo"!

3. Dielektrikum: Nun wird der "punktförmige" Atomkern durch eine externe Kraft aus der Elektronenhülle (rot) herausgezogen, wobei er anscheinend den negativen Ladungsschwerpunkt mitnimmt. Wird er harmonisch schwingen, wenn man die externe Kraft abschaltet?

Warum ist die harmonische Schwingung so "wichtig"? Darauf gibt es eine einfache Antwort: man kann sie mathematisch leicht beschreiben, nicht nur in der Mechanik (Federpendel) oder in der Elektrizitätslehre (Schwingkreis, Dipolantenne), sondern auch in der Quantenmechanik. Dort heißt es dann "Übergangsdipolmoment":

4. Übergangsdipolmoment (Wikipedia)


"Drei Wellenfunktionen als spezielle Lösungen der zeitabhängigen Schrödinger-Gleichung für ein Elektron in einem Potential eines Harmonischen Oszillators. Links: Realteil (blau) und Imaginärteil (rot) der Wellenfunktion. Rechts: Die Wahrscheinlichkeit das Elektron in einer bestimmten Position zu finden. Die obere Reihe zeigt einen Eigenzustand mit niedriger Energie, die mittlere Reihe zeigt einen Energiezustand mit höherer Energie und die untere Reihe stellt die quantenmechanische Superposition der beiden oberen Zustände dar. Dabei bilden die beiden oberen, rechten Abbildungen im Gegensatz zur unteren, rechten Abbildung stationäre Zustände ab. Die untere, rechte Abbildung verdeutlicht, dass sich das Elektron im superpositionierten Zustand hin und her bewegt. Diese oszillierende Bewegung des Elektrons ist aber genau die Ursache eines oszillierenden, elektrischen Dipolmoments, welches zur Abstrahlung elektromagnetischer Wellen führt. Sie ist also direkt proportional zur Übergangswahrscheinlichkeit zwischen beiden Eigenzuständen."

(Frage: Was ist daran richtig und was ist falsch?)

Also wenn das Elektron sogar quantenmechanisch harmonisch schwingt, dann muss das Modell doch stimmen!

Das Problem ist nur, dass sich das Elektron im Atom nicht in einem quadratischen Potential befindet, sondern in einem 1/r-Potential, bzw. es gilt nicht Kraft ~ r, sondern Kraft ~1/r2. Die folgenden Visualisierungen sind alle in atomaren Einheiten gerechnet (man lässt einfach alle SI-Einheiten weg bzw. setzt alle Naturkonstanten = 1, siehe auch Anmerkungen zu atomaren Einheiten), Abszisse x = "orientierter Abstand". Wir betrachten zunächst die freie Schwingung.

Freie Schwingung

Potential

Wenn man das Coulombpotential durch ein Parabelpotential in "erster Näherung" ersetzen will, kann man - sinnvoller Weise - eine Parabel y = k/2*r2-C so einpassen, dass sie y=1/r berührt (je nach k und C). Dann stimmt in nullter Näherung der Berührpunkt und in erster Näherung die Änderung der Potentiale in nächster Umgebung. Mit diesem Modell des elastisch an den Kern gebundenen Elektrons nimmt man aber stillschweigend in Kauf, dass es 1. keine Ionen geben würde, 2. die Ruhelage des Elektrons im Kern wäre.

Bei dem in Rechenübungen beliebten Rosinenmodell (Thomson) befindet sich das Elektron in einem "homogen geladenen Pudding" (Parabelpotential), den es aber verlassen kann, weil es sich außerhalb des Puddings in einem Coulombpotential befindet.

Potential

Kraft

Wie abstrus diese Modelle und Rechenübungen sind, sieht man noch besser, wenn man die Coulombkraft mit der Federkraft vergleicht. Hier gibt es nur die "nullte Näherung" (Schnittpunkt der Kurven).

Hypotheses non fingo!

sagte schon Newton...

... und einer meiner Lehrer pflegte zu sagen: "In nullter Näherung ist die Erde ein Ziegelstein."

Kraft






Weshalb "funktioniert" dann das Druse-Lorentz-Modell? Weil man es bisher noch nicht hinterfragt hat? Nein, diese Antwort wäre zu banal. Die Dispersionstheorie "funktioniert" in erster Linie (bzw. erster Näherung), weil sie eine erzwungene Schwingung weit ab von einer Resonanzfrequenz beschreibt, es also gar nicht darauf ankommt, ob der harmonisch angeregte Oszillator auch von selbst harmonisch schwingen würde oder nicht.

Erzwungene Schwingung

An Federn aufgehängte Elektronen sind also ein fragwürdiges Modell. Wie ein atomarer Dipol entsteht (induziert wird), kann man sich besser so veranschaulichen:

Dem Coulombpotential des Kerns wird (im einfachsten Fall) ein lineares Potential (homogenes E-Feld) überlagert. Wenn das Feld harmonisch schwingt,

schwingt auch der "obere Rand des Potentialtrichters" harmonisch. Dabei entsteht ein Hochpunkt (2D), bzw. Sattelpunkt (3D), was zur Folge hat, dass das Elektron nicht nur schwingt, sondern den Kern auch unterhalb der Ionisationsschwelle verlassen kann, je nach Niveau auch durch Tunneln.

In einem fiktiven Parabelpotential

macht sich das "äußere Feld" praktisch nur durch eine Verschiebung der Parabel "zur Seite" (radial) bemerkbar. Auch bei beliebig hoher Feldstärke könnte das Atom nicht ionisiert werden, es sei denn, die Feder, mit der das Elektron an den Kern gebunden ist, reißt, bzw. der "Parabelbecher" ist oben abgeschnitten. Das wäre doch ein echter Quantensprung :-)).

Quantenmechanisch

Wie wird die "Auslenkung eines Elektrons aus der Ruhelage" in der QM beschrieben bzw. berechnet? Wenn es sich um eine statische Kraft handelt, geht das mit dem Stark-Effekt:

Stark-Effekt

Die Frage nach einer Federkonstante und einer externen Kraft auf ein (ruhendes) punktförmiges Teilchen, muss nun lauten: "Wie wird eine "Elektronenwolke", die sich im Coulombfeld des positiv geladenen Kerns befindet, durch ein homogenes elektrisches Feld verschoben?". Dabei stellt sich heraus, dass die "Elektronenwolke" auch deformiert wird, und zwar durch die Überlagerung verschiedener Zustände des Elektrons! So ist nun einmal die QM gebaut: die Änderung eines Zustands (und damit eine "Bewegung") ist mathematisch nur möglich, wenn sich die Superposition (die Koeffizienten der Basiszustände) ändert. Die einfachste Variante wäre eine Überlagerung des Grundzustands mit dem ersten angeregten Zustand. Will man es etwas genauer wissen, kann man in Störungsrechnung 1. Ordnung, auch höhere Zustände berücksichtigen:

Formel

Darin sind die |ψ⟩  die H-Wellenfunktionen. Im folgenden sind für das H-Atom die Betragsquadrate der Superpositionszustände
c|1,0,0〉+λΣ|n,1,0⟩  dargestellt, mit dem Störparameter λ (elektrische Feldstärke), und mit c "nachnormiert" auf 1.
Farbskala: von Vakuum = blau bis Elektron = rot (das Proton im Zentrum muss man sich dazudenken).

Änderung mit der maximalen Hauptquantenzahl (in der Summe) von n=2 bis n=6 für einen Störparameter λ (die elektrische Feldstärke) von 0.2 im Sekundentakt. Natürlich müsste λ⪡1 sein, aber dann wäre der Einfluss höherer Zustände unsichtbar.

 

 

Änderung mit dem Störparameter, wenn man alle Zustände bis n=6 berücksichtigt. Links: von 0 bis 0.5 im Sekundentakt, rechts sinusförmig mit der Amplitude 0.5.

Die erzwungene Schwingung lässt sich also auch quantenmechanisch beschreiben, obwohl das Elektron sicher nicht an einer Feder hängt!

Übergangsdipolmoment 

Und es kommt noch ein Problem hinzu: "Die Elektronenhülle" hat eine Struktur, die sich quantenmechanisch berechnen lässt.
Wir vergleichen den Hertzschen Dipol mit mit dem atomaren Dipol: In Wikipedia liest man: "Die Dynamik von Elektronen, Ionen oder permanenten Dipolen in einem Festkörper kann vereinfacht durch einen gedämpften harmonischen Oszillator beschrieben werden."

Wenn ein Hertzscher Dipol schwingt (natürlich harmonisch), sieht die Ladungsverteilung so aus:


Wenn ein atomarer Dipol frei schwingt, geht das Atom von einem höheren Zustand unter Abgabe von Energie (eines Photons) zu einem niedrigeren Zustand über. Die folgenden Animationen zeigen die Ladungsverteilung ("das Elektron") für den Übergang (2,1,0) -> (1,0,0) (links) im Vergleich zur Ladungsverteilung des Hertzschen Dipols (rechts):
Erste Zeile: Der vollständige Übergang. Darunter Zeitlupen für
Zweite Zeile: "kurz vor dem Quantensprung"
Dritte Zeile: "mitten im Quantensprung"
Vierte Zeile: "kurz vor dem Ende des Quantensprungs"

 

In der linken Spalte ist wie oben (Stark Effekt) nur die Ladungsverteilung des (einen) Elektrons dargestellt, von 0 (blau) bis "maximal" (rot). In der rechten Spalte bedeutet rot "negativ geladen" und blau "positiv geladen" (der lineare Hertzsche Dipol wurde nur zur 3D-Visualisierung verbreitert). Während beim atomaren Dipol also das Zentrum immer positiv geladen ist, ist es beim Hertzschen Dipol immer neutral (grün). Auch wenn man nur mit "Ladungsschwerpunkten" rechnet, sind also die gängigen Modelle vom "elastisch gebundenen Elektron" bis zum "gedämpften harmonischen Oszillator" bestenfalls eine Näherung nullter Ordnung, und man muss sich fragen, weshalb diese klassischen Analogien bis heute selbst in der "professionellen Quantenphysik" fester Bestandteil der "Theorie" sind, wie z.B. die Weisskopf-Wigner-Theorie.
Der zeitliche Verlauf des atomaren Übergangs wurde in obigen Animationen mit einer tanh-Funktion modelliert, siehe Spontane Emission. Obwohl dieser Ansatz schlicht auf der Erhaltung der Energie basiert, und mittlerweile experimentell bestätigt ist, kommt er aber in der "professionellen Quantenphysik" bis heute kaum vor. Warum? Weil alles, was gedämpft schwingt, exponentiell abklingt - wie eine Feder, die man spannt, und dann loslässt!

Reduzierung auf 1D: Zum Vergleich mit einer Stabantenne, kann man obige Darstellungen der Ladungsdichte des Elektrons auch senkrecht zur Dipolachse integrieren. Das ergibt die folgenden "Randverteilungen" (links der vollständige Übergang, rechts eine Zeitlupe symmetrisch zur Zeit 0, also dem "Moment des Quantensprungs" :):

Dabei fällt auf, dass das Elektron im Coulombfeld ganz anders schwingt, als im harmonischen Oszillator der Quantenmechanik.

Reduzierung auf 0D: Wenn man das Modell unbedingt noch weiter vereinfachen (oder idealisieren?) will, kann man es so auf den Punkt bringen, indem man den "Ladungsschwerpunkt" der 1D-Verteilung berechnet und als Funktion der Zeit darstellt:

Vereinfachungen haben aber auch eine gute Seite, bzw. Kontrollfunktion:
a) das atomare Dipolmoment erreicht sein Maximum, wenn sich das Elektron zu gleichen Teilen im angeregten Zustand (n+1) und "Grundzustand" (n) befindet (t=0). Das Modell der gespannten Feder, die man zur Zeit 0 loslässt, kann man also vergessen.
b) Auf der Ordinate ist in atomaren Einheiten "die Dipollänge" abgetragen, die sich aus der Normierung der 1D-Darstellungen ergibt, also etwa 0.4 anstatt 0.7449355388 für n=2 → n=1 im Maximum. Aber keine Sorge, auch die quantenmechanisch berechnete Dipollänge ist für beliebig hohe Hauptquantenzahlen immer fast genau die Hälfte des Bohrschen Radius des Endzustands.

 

Aber natürlich gehört zu einem schwingenden atomaren Dipol auch ein Strom

Siehe auch Elektrofluid

Anmerkung zu atomaren Einheiten (SI-Zahlenwerte gerundet auf zwei Stellen):
Bohrscher Radius a0=5.3×10-11m. Im Abstand a0 gilt dann (für die Beträge):
Potential: 27V
Feldstärke: 5.1×1011V/m
Kraft auf Elementarladung: 8.2×10-8N
Beschleunigung: 9.0×1022m/s2, also das 1022-fache der Fallbeschleunigung!
Mit dem naiven Ansatz "Federkonstante = Ableitung der Coulomb-Kraft nach der Auslenkung" (z.B. Gerthsen, Physik, 25. Aufl.) kann man sich dann "in erster Näherung" eine Federkonstante von 31×102N/m und eine Eigenfrequenz von 9.3×1015Hz ausrechnen.

Und Kretschmann sprach: Das Modell stimmt. Und was wir machen, wenn es nicht stimmt, sehen wir, wenn es nicht stimmt. Das stimmt immer!

Et vidit Deus lucem quod esset bona et divisit lucem ac tenebras.  

© September 2022, Dr. Michael Komma (VGWORT)

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