Bremsstrahlung - Feldlinien

Zur Orientierung in der Elektrodynamik verwendet man gerne Merksprüche der Art: "Ruhende Ladung = E-Feld, gleichförmig bewegte Ladung = B-Feld, beschleunigte Ladung = elektromagnetische Strahlung". Und fast alle Lehrbücher zur Elektrodynamik sind etwa so gegliedert: Elektrostatik (Coulomb) - Magnetostatik (Ampère) - Elektrodynamik (Maxwell). Wenn man diesen Dreischritt visualisiert, zeichnet man gerne radiale Feldlinien für das Coulombfeld, Kreise für das B-Feld eines Gleichstroms und E-Wirbel, die sich von einem Hertzschen Dipol ablösen. Im Falle einer Punktladung geht man meistens stillschweigend davon aus, dass die Feldlinien wie "Stacheln" an der Punktladung fixiert sind, und das Coulombfeld isotrop ist, egal in welchem Bezugssystem (räumlich und zeitlich).

In diesem Baukastenmodell "Coulomb - Ampère - Maxwell" fehlt aber der Architekt Einstein: Jede Änderung des (elektromagnetischen Feldes) kann sich höchstens mit (Vakuum-) Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, wobei die Lichtgeschwindigkeit in allen Bezugssytemen den gleichen Wert hat.

Wir machen dazu zwei Gedankenexperimente.

A) Wie sieht das E-Feld einer Punktladung aus, die zunächst vom "Rest der Welt" abgeschirmt ist (roter Kreis, z.B. leitende Kugelschale), wenn man die Abschirmung schlagartig (zur Zeit t = 2s) entfernt?

Das Feldlinienbild kann sich nur mit Lichtgeschwindigkeit ändern. Bildlich gesprochen erzeugt also die Punktladung laufend Feldlinien, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Im Teilchenbild spricht man von virtuellen Photonen (die aber nicht mit den virtuellen Photonen der Weizsäcker-Williams-Methode zu verwechseln sind!).

B) Wie sieht das Feldlinienbild einer Punktladung aus, die sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten bewegt (lange nachdem man die Abschirmung entfernt hat)?

Die folgende Animation zeigt die Feldlinienbilder einer Punktladung, die sich mit den Geschwindigkeiten β = seq(k/90, k = 0 .. 98) horizontal bewegt (β in Einheiten der Lichtgeschwindigkeit, die letzten 2 Frames werden 1 Sekunde lang angezeigt).

Die Feldlinienbilder erscheinen in Bewegungsrichtung kontrahiert! Bis etwa zu 3/5 der Lichtgeschwindigkeit merkt man davon relativ wenig, aber danach ändert sich die Kontraktion relativ rapid mit dem Lorentzfaktor γ (auf der Hochachse, v = β):

 

Folgerung aus den Gedankenexperimenten A) und B): Wenn sich die Geschwindigkeit (Betrag und Richtung) einer Punktladung ändert, müssen die quasistatischen radialen Feldlinien durch nicht radiale Feldlinien verbunden werden. Wir untersuchen das an drei Beispielen. 1. Linear gebremst, 2. Lineare Schwingung und 3. Kreisförmige Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit (Synchrotron). Dazu gibt es zwei Methoden: a) analytische Berechnung der Feldlinien, und b) "virtuelle Photonen".

1. Linear gebremst

a) Feldlinien. Gedankenexperiment: Eine Punktladung, die sich mit β = 0.9 bewegt, wird durch eine konstante Verzögerung, die passend ein- und ausgeschaltet wird, so gebremst, dass sie im Ursprung zur Ruhe kommt (nach Tsien)

Die Zeitlupe zeigt genauer, weshalb die Feldlinien geknickt werden:

Was kann man diesen Animationen entnehmen?
- Die Dichte der Feldlinien steht für hohe Feldstärke. Bremsstrahlung wird also im relativistischen Fall (β = 0.9) in zwei Keulen nach vorne abgestrahlt.
- Die Länge der Feldlinien veranschaulicht, wie weit sich das Feld ausgebreitet hat (abhängig vom gewählten Beobachtungszeitpunkt).
- Die Richtung des Feldes? Immer einer Feldlinie entlang gehen :).

b) Virtuelle Photonen

Im Ruhesystem der Ladung werden die virtuellen Photonen isotrop mit der Geschwindigkeit β = 1 emittiert. Bewegt sich die Ladung im "Laborsystem", so muss man die Geschwindigkeiten relativistisch addieren.
Bewegt sich die Ladung gleichförmig mit β = 0.6, so kann man die Photonen (kleine Kreise, die mit konstanter Frequenz emittiert werden) so darstellen:

 

und sich die "emittierten Feldlinien" als geradlinige Verbindung dazudenken. Diese virtuellen Feldlinien sollte man aber nicht mit den Bahnen der virtuellen Photonen verwechseln, die z.B. so aussehen:

Virtuelle Photonenbahnen in Abhängigkeit von β = 0 .. 39/40 

Wenn sich die Ladung z.B. mit β = 0.9 bewegt, bewegen sich alle virtuellen Photonen, die zur gleichen Zeit emittiert wurden, auf dem Schnittpunkt des virtuellen Kreises (= retardierte Zeit) mit ihrer geradlinigen Bahn:

 

 

2. Hertzscher Monopol

Hertzscher Monopol? Richtig, den gibt es nicht! Aber man kann sich ja fragen, wie das Feldlinienbild eines Elektrons aussehen würde, das von Geisterhand in eine lineare harmonische Schwingung versetzt wird.

Mit virtuellen Photonen sieht das so aus (ω = 0.2*π, Amplitude = 1):

Man kann nun zur Darstellung der Feldlinien "den Computer die Punkte durch Linien verbinden lassen", oder die

Feldlinien analytisch berechnen (nach Tsien, s.u. Literatur).

Animation als Funktion der Zeit mit der maximalen Geschwindigkeit β = 0.8, 14 Feldlinien

Hier sind 51 Momentaufnahmen des Feldlinienbildes des schwingenden Monopols mit β = 0..0.98 im Sekundentakt

(Kontrollfrage: Welcher Zeitpunkt wurde für die Darstellung verwendet? :))

3. Synchrotronstrahlung

Schließlich noch ein Realexperiment, das sich auch in der Theorie relativ einfach beschreiben lässt, wenn man vernachlässigt, dass abgebremste Ladungen Energie abgeben. Tsien (s.u., Literatur) gibt eine analytische Lösung für die E-Feldlinien der Synchrotronstrahlung an, die man zum Zweck der Animation nur wie eine Schallplatte drehen muss. Hier sind zwei Animationen der "rechtsdrehenden Schallplatte" mit β = 0.8

und β = 0.98

 

Zitat aus Tsien (s.u.): It should be physically obvious that an increase in t0, the moment of observation, corresponds

Auch hier wieder 51 Momentaufnahmen, wenn sich die Ladung auf ihrer Kreisbahn mit den Geschwindigkeiten β = 0..0.98 bewegt:

 

Anmerkungen:

Die Gleichung für das elektrische Feld einer beliebig bewegten Ladung findet man z.B. in J.D. Jackson "Classical Electrodynamics" (1962, S.467):

Darin sind die Vektoren n (Richtungseinheitsvektor von der Ladung zum Beobachtungspunkt) und β (Geschwindigkeit/Lichtgeschwindigkeit) fett gedruckt, R ist der Abstand der Ladung zum Beobachtungspunkt, und κ = 1 - .
(Alle hier gezeigten Visualisierungen wurden mit e = c = 1 berechnet.)
Sieht doch gar nicht so kompliziert aus? Der Haken ist nur, dass alles zur retardierten Zeit t' berechnet werden muss, mit
t' = t - R(t'), mit der Beobachtungszeit t als Parameter. Leider lässt sich diese implizite Gleichung in den meisten Fällen nur numerisch lösen, wie z.B. im Falle der Synchrotronstrahlung:

Die folgenden Animationen zeigen links das E-Feld (Maple fieldplot() mit logarithmischer Gewichtung) und rechts das E-Feld in y-Richtung längs der Geraden y = 1.1 (2D-Plot), wenn sich eine positive Ladung im Uhrzeigersinn auf einem Kreis mit Radius 1 mit den Geschwindigkeiten β = 0.5, 0.8 und 0.9 bewegt (es ist nur das "acceleration field" (1/R) dargestellt).

Der Aufwand, in Maples fieldplot() eine numerische Lösung unterzubringen, ist relativ hoch, und das Ergebnis sieht auf den ersten Blick relativ mager aus, weil man die Feldstärkenpfeile nur in einem Gitter anordnen kann. Aber er lohnt sich doch, weil mit dieser Art der Darstellung die "eigentliche Physik" besser zu sehen ist: "Relativistische Ladungen strahlen immer in Vorwärtsrichtung", im Synchrotron "fliegen die Photonen also immer tangential von der Kreisbahn weg", wenn sich die Ladung mit β nahe 1 bewegt.
Im Feldlinienbild (s.o.) sieht man eine "Archimedische Spirale", bzw. einen "kreisenden Machschen Kegel". Die Form der Spirale ist nicht falsch, aber die Dichte der Feldlinien suggeriert, dass der zugehörige E-Puls mit der Entfernung nicht abnimmt. In den 2D-Plots (rechts) sieht man dagegen die 1/R-Abnahme. Sehen Sie auch den richtigen Abstand zwischen dem großen und kleinen Puls (je nach β)?
Und dann läuft ja noch ein kleiner Puls rückwärts. Und wie sieht es mit der Polarisation der Strahlung aus? Was sagt Fourier zum Synchrotronpuls? Und das B-Feld? Natürlich alles in 3D? Vielleicht im avancierten Jahr :)...

Ergänzung: Winkelverteilungen der Synchrotronstrahlung (Jackson S.474, (14.44)).

2D:  β in Schritten 0.11 von 0 bis 0.99 in Richtung 0. Links: Maximum normiert auf 1, rechts: log10.

Die linke Darstellung wurde gewählt, um die Form der Winkelverteilung zu veranschaulichen: von der nicht relativistischen Dipolstrahlung zur relativistischen "Bremsstrahlungskeule". In der rechten Darstellung sieht man, dass die Intensität um sieben Größenordnungen zunimmt.

3D: β = 0, 0.1, 0.5, 0.9 in z-Richtung, Beschleunigung in x-Richtung (man beachte die verschiedenen Maßstäbe):

Empfehlung: In dem Programm "Radiation 2D" von Shintake (s.u.) kann man die Ladung mit der Maus bewegen. Hier ein paar Beispiele, die als Screenshots aufgenommen wurden:

Literatur 

Shintake:

Nuclear Instruments and Methods in Physics Research A 507 (2003) 89–92
Real-time animation of synchrotron radiation
Tsumoru Shintake
RIKEN/SPring-8, Harima, Hyogo 679-5148, Japan

Radiation 2D: https://photon-science.desy.de/sites/site_photonscience/content/e39/e174590/e174610/e269832/e286052/Radiation2D_eng.zip

Code: Unter der angegebenen Adresse http://www-xfel.spring8.or.jp ist leider nichts zu finden.

Tsien:

AJP Volume 40
Pictures of Dynamic Electric Fields
ROGER Y. TSIEN
Department of Physics
Harvard University
Cambridge, Massachusetts 02138
(Received 24 June 1971)

Pictures of Dynamic Electric Fields
Roger Y. Tsien
American Journal of Physics 40, 46–56 (1972) doi: https://doi.org/10.1119/1.1986445

Just for fun...

© April 2023, Dr. Michael Komma (VGWORT)

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